Karfreitag ist der Tag, der nicht sein sollte. Im Grunde müsste man ihn ausradieren aus den Kalendern. Denn wir sind harmoniebedürftige Menschen. Mit rastlosem Größenwahn und unendlicher Sehnsucht nach der eigenen Unschuld. Einblick nehmen in Verstrickungen? In das eigene, abgründige Ich? Nein, ein Tag, an dem nur auf das Dunkle und das Ausweglose gestarrt wird, gehört abgeschafft. Eigentlich.
Karfreitag ist der Tag, der keine Ausflüchte zulässt. Aber nicht, um uns herabzuziehen und schlecht zu machen, sondern um uns Gottes liebevolles Handeln vor Augen zu führen. „Lasst euch versöhnen mit Gott“ (2. Korinther 5,14b–21) ist die frohe Botschaft dieses Tages, in dem die Heilsbedeutung des Todes Jesu im Mittelpunkt steht. Um diese frohe Botschaft zu entdecken, sind drei Fragen grundlegend: Was ist Sünde? Was bedeutet Sühne? Und warum musste Jesus „für uns“ sterben?
1. Was ist biblisch eigentlich mit Sünde gemeint?
Auf keinen Fall: zu viel Kuchen zu essen. Sünde hat mit Moral nichts zu tun. Sünde meint nicht in erster Linie, sich von Gott zu entfernen, weil man etwas falsch macht. Sünde ist biblisch ein Beziehungsbegriff und kein ethischer Begriff. Ist die Beziehung zu dem anderen gestört, herrscht die Sünde, das heißt: Beziehungslosigkeit. Luther übersetzt: Misstrauen.
Dabei wird Sünde als soziale Größe verstanden und nicht bloß individualistisch. Es ist eine Beschreibung des Zustandes, in dem wir Menschen leben. Die Bibel zeichnet ein realistisches Bild vom Menschen, kein aufgeklärt-idealistisches: Wir wünschen uns gelingende Beziehungen, doch letztlich sind unsere Beziehungen von Misstrauen, Abbrüchen, Leid und Schuld geprägt.
Sünde ist ein Zustand mit Folgen. Wir werden fortgesetzt schuldig, etwa an den Schwachen in der Gesellschaft, an der Bevölkerung ärmerer Länder, an der Natur – und zwar durch unser bloßes Leben und Konsumieren. Sünde ist mehr als die Summe persönlicher Fehler. In die Sünde sind wir teilweise ungewollt und dennoch kollektiv verstrickt. Es geht um eine verheerende moralische Gesamtsituation, inklusive lebensfeindlicher politischer und sozialer Strukturen.
2. Gott braucht kein Opfer – Sühne als Befreiung (nach Jesaja 53)
Zunächst: Nicht Gott hat Jesus getötet, sondern es waren Menschen. Nicht Gott ist grausam, sondern wir. Schonungslos wird die Wirklichkeit von Tätersein und Opfersein ausgesprochen. Von Gottes Seite aus musste dieser Tod nicht sein.
So heißt es in Jesaja 53, einem der Gottesknechtslieder, die schon frühchristlich zur Deutung des Todes Jesu herangezogen wurden (Jesaja 53,4): Unsere Krankheit hat der Gottesknecht getragen, das heißt seine Verletzungen gehen auf unser Fehlverhalten zurück. Wir haben sein Leid verursacht. Und wir sind immer wieder dabei, genauso zu handeln. Nicht der Gottesknecht selbst ist schuld daran.
Ebenso ist ein Mobbing-Opfer bei der Arbeit oder in der Klasse nicht selbst schuld, sondern er oder sie trägt die Schuld der anderen, Aggressionen werden ihm oder ihr aufgeladen. Wenn diese Person nun aus der Firma oder Klasse entfernt wird, ist die Gruppe dadurch nicht geheilt, sondern die Krankheit ist weiterhin da – und wird sich ein neues Opfer suchen.
Des Menschen Irrtum ist, dass er denkt, er werde von Gott geschlagen. Dass das nicht stimmt, macht Jesaja 53,5a klar: „Wegen unserer Frevel“ leidet der Gottesknecht. Im hebräischen Original-Text steht nicht: „Er ist verletzt um unserer Frevel/Missetaten willen.“
Und Jesaja treibt die Schuld und Verantwortlichkeit des Menschen auf die Spitze: Weil der Gottesknecht ohnehin geschlagen ist, wird er noch mehr geprügelt. In Jesaja 53,5b steht: „So lange haben wir geprügelt, bis wir durch seine Striemen Erleichterung finden konnten.“ Es ist eine Beschreibung des Lustgefühls beim Schlagen, das für den Augenblick „heilt“. Wir prügeln auf andere ein, machen andere mit Worten fertig, weil wir mit uns unversöhnt sind, um uns Erleichterung zu verschaffen. In der jüdischen Auslegung ist zu lesen: „Wenn wir ihn verletzten, war es uns, als ob wir geheilt würden – so sehr freuten wir uns an seinem Unglück. Wir finden Frieden durch die Schmerzen, die wir ihm zufügten.“
Nimmt man diese jüdische Auslegungstradition von Jeseja 53 ernst, dann ist es der Gottesknecht selbst, der sein Leben hingibt – aus freien Stücken. Aber Gott lässt ihn nicht fallen, sondern richtet ihn auf. Dieses Geschehen von Hingabe und Aufrichtung stiftet neu Beziehung, überwindet die Sünde, die Beziehungslosigkeit. So sühnt er, wirkt heilend und eröffnet neue Wege zum Leben. Sühne im biblischen Sinn bedeutet nie, dass ein zorniger Gott besänftigt werden muss durch ein Opfer.
Dieser Gedanke ist so erst im Anschluss an Anselm von Canterbury im Mittelalter aufgekommen. Nach Anselms „Sühneopfertheorie“ musste der beleidigte und wütende Gottvater durch das Blut Jesu besänftigt und versühnt werden. Das ist ein grobes Missverstehen. Biblisch muss es kein Sühnehandeln geben als Genugtuung für Gott. Weder muss Gott gnädig gestimmt, noch muss er „zu seinem Recht kommen“. Gegenüber diesen Missverständnissen, als ob Gott in irgendeiner Art versöhnt werden müsste, ist ausdrücklich und entschieden mit Paulus zu betonen: Gott selber versöhnte die Welt mit sich. Gott selbst ist der Handelnde. Gott sucht Versöhnung. Er tut es aus Liebe zu uns. Gott wollte kein Menschenopfer haben. Weder erlaubt die Bibel Menschenopfer, noch wollten die Mörder Jesu ein Opfer bringen.
3. Warum musste Jesus „für uns“ sterben?
Es geht bei diesem Sühnegeschehen nicht nur um den Einzelnen, sondern um die Verstrickung der ganzen Gesellschaft. Alle leben wir in Schuldzusammenhängen. Unser Leben bedarf der Sühne – das heißt des Hineingenommenwerdens in die Welt des Lebens, also zu Gott. Das feiern Juden am großen Versöhnungstag, dem Yom Kippur, dass Gott die Schuld der Menschen „bedeckt“.
Der Mensch in der modernen Welt ist davon überzeugt, alles selbst zu schaffen. Auch die Erlösung. Zudem ist sie ständig dabei, Schuld und ihre Folgen zu verdrängen oder schön zu reden oder mit „Sachzwängen“ zu bagatellisieren. All das führt dazu, dass wir mit Sühne, die auf Gemeinschaft zielt, nichts anzufangen wissen.
Paulus kann aus der jüdischen Tradition Gerechtigkeit, Heil oder Unheil nur sozial, also in Bezug auf Gemeinschaft denken. „Gerecht“ ist jemand, der das Zusammenleben ermöglicht (Römer 3,25). Der „Gerechtfertigte“ ist dementsprechend derjenige, den Gott in seine Gemeinschaft aufnimmt, mit dem die Beziehung wieder stimmt, alles Misstrauen beseitigt ist. Glaube ich das, ist der Zustand der Sünde, der Beziehungslosigkeit, überwunden, gesühnt (Römer 3,28).
Der Kern der biblischen Botschaft ist: Gott vergibt uns die Schuld, weil er Gott ist, weil er barmherzig und gnädig ist. Und nicht, weil Jesus am Kreuz gestorben ist. Die biblischen und liturgischen Formulierungen, dass Jesus unserer Sünden wegen für uns gestorben ist, weisen auf etwas Entscheidendes hin: Es kommt uns zugute.
Dass Jesus am Kreuz sterben musste, hat mit menschlicher Feigheit, Macht, Brutalität und letztlich Schuld zu tun. Gott hat die Grausamkeit der Menschen völlig umgewandelt, wie nur er Hass und Unglück verwandeln kann. So ist das Kreuz Jesu Ausdruck und Summe unserer Grausamkeit und Ausdruck und Summe der Feindesliebe, der Versöhnungstat, der allumfassenden Liebe Gottes.
Johannes deutet den Tod Jesu als Freundschaftsdienst: „Es gibt keine größere Liebe, als wenn einer sein Leben für seine Freunde hingibt“ (Johannes 15,13). Am Kreuz hat uns Jesus bis zur Vollendung geliebt, um denen, die sich selbst aufgegeben haben und sich selber nicht akzeptieren können, die Augen zu öffnen und ihnen diese Botschaft zu vermitteln. Diese Liebe zu uns am Kreuz ist die intensivste Predigt, die Jesus gehalten hat, eine Predigt mit seiner ganzen Existenz: „Du bist mit allem, was du bist, auch mit deiner Schuld, von Gott geliebt. Gottes Liebe will in alle Gegensätze deiner Seele dringen, in die Stärken und Schwächen, in die Licht- und Dunkelseiten, auch in deine Schuld.“
Mit dem Blick auf Kreuz und Auferstehung Jesu erkenne ich die Liebe Gottes, die mich annimmt, mir Schuld vergibt, die mich auch mit all meinen aggressiven, feigen, dunklen und destruktiven Tendenzen meiner Seele nicht fallen lässt, sondern verwandeln will. Am Kreuz siegt die Liebe über menschliches Versagen. Sie siegt auch über unsere Selbstentfremdung und Selbstverurteilung. Gott hat alles Nötige dafür getan. Das ist die befreiende Botschaft für uns.
Andreas Goetze ist Landespfarrer für interreligiösen Dialog.
Jule | 03.28.13 | die Kirche | No Comments |