Dem Kreuz ins Leben folgen

Mir ist von der letztjährigen Karfreitagsprozession vor allem eine Szene im Gedächtnis geblieben: Zwei Männer, Anfang 20, Berlin-Besucher, saßen in der Wärme der ersten Frühlingssonne auf einer Bank unweit der St. Marienkirche, als unsere Prozession vorbeizog. Sie schauten und staunten. Dann sagte einer zum anderen: „Wie lange hing der eigentlich am Kreuz, dieser Jesus?“

Es sind diese kleinen Begegnungen, die berühren und bewegen. Passanten oder Gäste in den Straßencafés werden durch die Prozession daran erinnert, dass der freie Tag heute Karfreitag ist. Menschen, die sonst nichts mit Kirche zu tun haben, die sich kaum überlegen, ob und woran sie glauben, werden plötzlich mit den großen Fragen unseres Seins konfrontiert. Etliche gehen eine oder zwei Stationen einfach mit. Sie folgen dem großen grünen Kreuz, das von schwarz gekleideten, schweigenden Menschen getragen wird. Ein großes Kreuz, mitten in der Stadt, mitten im Leben. Immer wieder und immer noch haben Bilder wie dieses eine Faszination auf uns. Erzeugt werden diese eindrücklichen Bilder durch liturgische Handlungen. Sie bringen uns dazu, nachzudenken: worauf vertraue ich im Leben und im Sterben? Ist mit dem Leid, ist mit dem Tod alles aus?

Tod und Auferstehung

Am Karfreitag zeigen wir öffentlich, dass wir als Christinnen und Christen dem Kreuz folgen und Gedanken wie diese in uns bewegen. Die große Kreuz-Prozession in Berlin Mitte findet nun schon zum vierten Mal statt. Wir ziehen vom Berliner Dom aus zu insgesamt sieben Innenstadtkirchen. Die Karfreitagsprozession ist  Teil des sogenannten Triduums, der drei besonderen Tage vom Gründonnerstag bis zur Osternacht. Dabei vollziehen wir symbolisch den Weg über das Gedenken von Tod und Sterben bis zur Auferstehung nach.

Auf den sieben Stationen hören wir Teile der Passionsgeschichte. Außerdem erinnern wir an all diejenigen Berlinerinnen und Berliner, die durch das nationalsozialistische Regime ihrer kulturellen Vielfalt beraubt wurden. Denn die Karfreitagsprozession gehört in diesem Jahr zum Themenjahr „Zerstörte Vielfalt“, das von der Stadt ausgerufen wurde.

Während der gesamten Karfreitagsprozession schweigen wir

Während der gesamten Karfreitagsprozession schweigen wir. Nur so können wir den Schmerz aushalten. Den Schmerz darüber, dass auch durch die Schuld von Vertretern der Evangelischen Kirche und ihre Unfähigkeit, Widerstand zu leisten, Menschen ermordet wurden oder leiden mussten. Wir können uns dafür nicht entschuldigen. Im Bewusstsein unserer Schuld können wir nur eines: voller Scham und Trauer schweigen.

Wir versuchen, aus der Erinnerung zu lernen und den Mut zu haben, heute dem Unrecht zu widerstehen und uns aktiv für Toleranz einzusetzen. Denn als die, die an Christus glauben, wissen wir, dass der Tod und alles Leid immer nur das Vorletzte ist. Denn was uns droht, ist nicht der Tod, sondern die Auferstehung.

Und noch ein Aspekt: Die Karfreitagsprozession ist in Berlin inzwischen ein fester Bestandteil des geistlichen Lebens. Sie macht öffentlich deutlich, wofür sich die Evangelische Kirche offensiv einsetzt und welche Relevanz der Glaube für den oder die Einzelne hat. Mission bedeutet heute, sichtbar zu sein.

Die Last gemeinsam tragen

Wir sind sichtbar: Im letzten Jahr gingen mehr als 1000 Männer, Frauen und Kinder zusammen mit Glaubensgeschwistern aus der Ökumene und den Johanniter-Ordensrittern mit. Viele wollten das 80 Kilogramm schwere Kreuz gemeinsam mit anderen tragen. In meinen Augen verdeutlicht das, wie hoch die Bedeutung der Feier des Karfreitags in dieser Form geworden ist.

Als Christinnen und Christen wissen wir, dass nach Karfreitag Ostern wird. Damit verwandelt sich das schwere Kreuz: Aus Leid, Hoffnungslosigkeit  und Schuldbewusstsein wird Licht – wird Auferstehung. Das Leben siegt über alle Todesstrukturen, die an uns haften. Denn wir glauben: Christus ist auferstanden.

Bertold Höcker
ist Superintendent des Kirchenkreises Berlin Stadtmitte.

Jule | 03.28.13 | die Kirche |

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